Ist Apfelklau eine Straftat?

Julian, Lea, Adriana und Ramin sind vier von 31 Schülerinnen und Schülern im Modellversuch.
Ist Apfelklau eine Straftat?
Im Sommer startete der neue Bildungsgang Fachoberschule Polizei in Gelsenkirchen: Modellversuch zur Polizeiausbildung mit 31 Schülerinnen und Schülern.
Streife-Redaktion

Früher habe ich immer wieder von den Schüssen an der iranisch-türkischen Grenze geträumt“, erinnert sich Ramin Majidi (21). Die Schüsse gingen zum Glück nur in die Luft und die Albträume verschwanden mit der Zeit. Ein schönerer Traum hat seine Kindheit begleitet: „Ich wollte immer schon Polizist werden.“ Seine Familie floh vor den Taliban aus Afghanistan in den Iran, da war Ramin noch ein Baby. Doch auch im Iran wurde die Familie als Geflüchtete unterdrückt. Mit 13 Jahren floh er deswegen mit zwei Cousins weiter nach Deutschland. Für ein sicheres Leben in einem demokratischen Staat. Für seinen Traumberuf „Polizist“.

Dienstagmorgen im Berufskolleg „Königsstraße“ in Gelsenkirchen. „Recht“ bei Klassenleiter Jochen Janssen steht auf dem Stundenplan. „Heute sprechen wir über Werte und Normen bei der Polizei“, eröffnet Janssen den Unterricht und zeichnet einen Bauernhof mit Apfelbaum auf das Whiteboard. „Max nimmt sich einen Apfel vom Baum des Bauern Schulte“, beschreibt er den Sachverhalt. „Welches Delikt könnte denn hier im Raum stehen?“, möchte Janssen wissen, der nicht nur Volljurist, sondern auch Diplom-Theologe ist. „Das ist doch nur ein Apfel, ist das überhaupt eine Straftat?“, fragt eine Schülerin. „Klar, das ist doch trotzdem Eigentum des Bauern. Stell dir mal vor, das würde jeder machen. Damit verdient er doch sein Geld“, kontert ein anderer Schüler.

Welche Werte und Normen spielen eine Rolle für die Gesellschaft? Welche Dienstpflichten und Rechte hat die Polizei? Die Klasse bekommt die Aufgabe, sich unterschiedliche Polizeieinsätze anzuschauen. Lea (16), Julian (17), Adriana (16) und Ramin (21) wählen als Erstes den Einsatz „Verkehrsunfall“. „Die Polizei muss die Unfallstelle absichern, macht also Gefahrenabwehr“, schlägt Lea vor. „Wenn sie den Unfall aufnimmt, sorgt sie dafür, dass der Verursacher bestraft wird“, ergänzt Julian. „Und der Schaden am Auto muss ja auch bezahlt werden“, fügt Adriana hinzu. „Welche Norm ist hier verletzt?“, fragt Janssen nach. „Da hat sich einer nicht an die Straßenverkehrsordnung gehalten“, meldet sich ein Schüler zu Wort. „Wenn jemand durch den Unfall verletzt ist, ist das ja auch eine Straftat“, ergänzt eine Schülerin. „Im Fach Recht zeigen wir den Schülerinnen und Schüler konkrete alltägliche polizeirechtliche Situationen“, erläutert Janssen. „Die Beispielfälle kommen aus den Bereichen Gefahrenabwehr, Strafverfolgung sowie Verkehrsüberwachung und -sicherheit. Es bereitet mir richtig Freude, mit welchem Engagement die Schülerinnen und Schüler die Fälle analysieren und sich darin probieren, sie unter Anwendung der gesetzlichen Vorschriften lösen.“

"Auch wir Lehrenden werden in den nächsten Monaten viele Erkenntnisse sammeln."

Jochen Janssen

Seit dem Sommer 2022 gibt es den neuen Bildungsgang „Fachoberschule Polizei“, ein Modellversuch zur Polizeiausbildung für Schülerinnen und Schüler mit mittlerem Bildungsabschluss. 31 Schülerinnen und Schüler zwischen 15 und 22 Jahren haben es zur FOS Polizei in Gelsenkirchen geschafft. Lea, Julian, Adriana und Ramin sind vier von ihnen. Nun tummeln sie sich zwischen den Schülerinnen und Schülern der Bereiche Sozial- und Gesundheitswesen sowie Wirtschaft und Verwaltung. Auch zum Beispiel Immobilienkaufleute, Bäcker, Köche und Friseure werden am Gelsenkirchener Kolleg ausgebildet.

Ramin ist mit 21 Jahren einer der Ältesten in der Klasse – aber nicht etwa, weil er mehrfach „sitzen geblieben“ ist. „Ich bin mit 13 Jahren nach Deutschland geflüchtet, weil meine afghanische Familie im Iran nur wenig Rechte hatte. Fast zwei Monate war ich unterwegs, auch mit Schleusern“, schildert er. 2015 kam er mit 15 weiteren unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten in die Obhut des SOSKinderdorfs, wo sie mehr als neun Monate in einer kleinen Turnhalle wohnten, ehe sie in eine Wohngruppe kamen. Er besuchte Integrationskurse, eine Hauptschule und ein Gymnasium, verpasste allerdings wegen mangelnder Sprachkenntnisse den Realschulabschluss beim ersten Anlauf. „Uns sind so viele Menschen begegnet, die uns gefördert haben. Ein Lehrer am Gymnasium gab uns die Aufgabe, jeden Abend Nachrichten zu schauen und am nächsten Schultag darüber zu berichten. So wurde unser Deutsch immer besser“, erinnert sich Ramin, der inzwischen akzentfrei Deutsch spricht. Er ließ sich als Sozialassistent ausbilden und absolvierte dafür Praktika in der Altenpflege sowie bei Einrichtungen mit Kindern und Menschen mit Förderbedarf. So konnte Ramin die Mittlere Reife mit Qualifikation nachholen – mit der Note 1,6. Auf die FOS Polizei ist Ramin durch Instagram gekommen. „Ich konnte echt nicht fassen, dass es diese Chance gibt“, freut er sich. Nach der Zusage der FOS ist Ramin von Düsseldorf nach Gelsenkirchen gezogen und wohnt allein in einer Sozialwohnung – einen Steinwurf von der FOS entfernt. „Mit meiner Familie im Iran habe ich zwar Kontakt, ich habe aber meine Eltern seit der Flucht nicht mehr gesehen“, sagt Ramin traurig. „Aber in den Herbstferien besuche ich sie – ein Wiedersehen nach sieben Jahren!“

Adriana und Ramin sind zwei von insgesamt 16 FOSlern, die der Behörde Gelsenkirchen zugeordnet sind, dort also sowohl die FOS als auch die Praktika absolvieren. „Es sind noch alle da“, sagt Erster Polizeihauptkommissar Werner Wiebringhaus. Er ist Leiter der Personalwerbung bei der Polizei Gelsenkirchen und gehört zum Ausbilderteam. „Das ist gar nicht so selbstverständlich“, erklärt er. „Einige haben richtig weite Anreisen und ich war nicht sicher, ob das alle durchziehen.“ Adriana kommt aus Ammeln in der Nähe von Ahaus, ungefähr 80 Kilometer von Gelsenkirchen entfernt. Hier wohnt sie mit ihrer Familie auf einem Hof mit zwei Pferden und einem Hund. Ihre Großeltern wohnen neben dem Hof und halten Rinder und Hühner. „Eigentlich wollte ich an die FOS nach Münster, das wäre näher gewesen“, sagt sie. Knapp zwei Stunden pro Fahrtstrecke ist sie nun nach Gelsenkirchen unterwegs. „Ich vertreibe mir dann die Zeit mit meiner Zwillingsschwester Letitia – sie ist nämlich in derselben Klasse wie ich. Wir nutzen die Zeit im Zug dann zum Lernen oder chillen einfach“, erzählt sie. Auf die Idee, sich bei der Polizei zu bewerben, kam sie im Reitstall. „Ich verbringe dort viel Zeit, weil ich voltigiere und auch Kindergruppen trainiere. Dort ist eine Polizistin von der Reiterstaffel, die mir viel über die Polizei erzählt hat. Es wäre toll, wenn ich irgendwann einmal Seite an Seite mit ihr im Einsatz reiten könnte.“ In ihrer Freizeit singt Adriana gerne mit ihrer Schwester und hatte sogar einen Auftritt bei ihrer Abschlussfeier der Anne-Frank-Realschule in Ahaus.

"Was wir echt direkt bei der Polizei gelernt haben: Abkürzungen!"

Julian

Julian wohnt mit seinen Eltern und der älteren Schwester in einem Haus in Duisburg. Bis zum Sommer besuchte er die Gesamtschule Duisburg-Meiderich. „Ich wollte immer zur Polizei, schon als ganz kleines Kind“, erzählt er und zeigt ein Kinderfoto, auf dem er in einem grünen Polizeikostüm steckt und verschmitzt in die Kamera lächelt. Im August hatten die FOSler eine Exkursion nach Wuppertal zur Bereitschaftspolizei. „Die Polizistinnen und Polizisten haben uns viele unterschiedliche Einsatzfahrzeuge gezeigt“, schildert Julian. „Wasserwerfer und Räumfahrzeuge zum Beispiel. Auch Kletterer und Taucher waren dort und haben Vorführungen gemacht. Ich wollte vorher schon gern zur Hundertschaft, aber jetzt noch mehr“, schwärmt der 17-Jährige, der in seiner Freizeit viel Sport treibt. Im Tischtennis spielt er erfolgreich in der „Jungen-19-NRW-Liga“ und auch als Trainer engagiert er sich in seinem Verein SpVgg Meiderich 06/95 für Kinder und Jugendliche zwischen 7 und 18 Jahren.

Lea und Julian sind zwei von fünf FOSlern, die der Behörde Oberhausen zugeteilt sind, aber in Gelsenkirchen das Kolleg besuchen. „Wir haben zwei Tage Berufskolleg und drei Tage Praktikum pro Woche“, erklärt Lea. Lea wohnt mit ihrer Familie in Oberhausen und hat einen älteren Bruder. „Ich hatte schon die Zusage für ein dreiwöchiges Schülerpraktikum bei der Polizei. Das wäre in der 9. Klasse der Theodor-HeussRealschule gewesen, musste aber dann wegen Corona abgesagt werden“, blickt sie zurück. Über die Internetseite www.genau-mein-fall.de stieß sie dann auf die Möglichkeit, sich für die FOS Polizei zu bewerben. „Da wusste ich: Das möchte ich unbedingt machen.“ Ihre Eltern waren zunächst überrascht, unterstützen sie aber sehr. Sie kann sich vorstellen, später bei der Kriminalpolizei zu arbeiten. „Ich bin total offen, da ich alle Bereiche bei der Polizei spannend finde. Wir waren schon in verschiedenen Führungsstellen, beim Leitungsstab und bei der Fortbildungsstelle. Hier haben wir schon einige Eingriffstechniken gelernt. Im weiteren Verlauf des Praktikums geht es unter anderem zur Dienststelle Kriminalprävention/Opferschutz.“

In ihrer Freizeit unterstützt Lea bei Reittherapiestunden für Kinder mit Einschränkungen und joggt mit ihrem Havaneserrüden Gismo. Aktuell nimmt sie Fahrstunden für ihren Autoführerschein und möchte dann auch einen kleinen Roller fahren. „Den gebrauchten Roller habe ich mir zusammengespart. Er wartet schon in der Garage auf mich“, freut sie sich auf die ersten Ausfahrten.

"Die Kolleginnen und Kollegen waren sehr nett und offen zu uns."

Lea

„Lea und ich haben im Praktikum bei der Führungsstelle Verkehr die Kolleginnen und Kollegen erst einmal zum Staunen gebracht“, erzählt Julian. „Wir haben ihnen nämlich ganz genau aufgezählt, wie man einen Verkehrsunfall aufnimmt. Vom Drücken des Statusgebers, wenn man am Einsatzort angekommen ist, über Absichern der Unfallstelle bis zum Austausch der Personalien. Einiges davon haben wir in Gesprächen gelernt, die wir bei unserer Exkursion zur Bereitschaftspolizei geführt haben.“

Knapp 2.500 Schülerinnen und Schüler hatten sich um einen der landesweit 341 Plätze an elf Standorten in NRW beworben. Für den Schulbeginn im August 2023 kommen vier weitere Standorte hinzu, mit denen auch verstärkt der ländliche Raum erschlossen wird. Dementsprechend gibt es im nächsten Jahr insgesamt noch mehr Plätze, nämlich 465. „Die Nachfrage nach FOS Polizei steigt bei uns am Berufskolleg. Wir werden immer häufiger angerufen und auch Schülerinnen und Schüler, die hier schon sind, sprechen uns an“, erzählt der stellvertretende Schulleiter Jörg Plackmann. „Fast wäre der Traum einer FOS Polizei in Gelsenkirchen geplatzt“, berichtet Plackmann rückblickend. Da es sich um ein berufliches Gymnasium handelt, sind die Voraussetzungen andere als für die Hochschule der Polizei. „Zum Glück konnten wir den Volljuristen Jochen Janssen als Fachlehrer gewinnen“, freut sich Plackmann.

„Wir können in zwei Jahren die volle Fachhochschulreife erreichen und haben dann eine vorläufige Zusage für das Bachelorstudium. Dann müssen wir allerdings noch einmal zu einem Gesundheitscheck beim Polizeiarzt“, schildert Lea den weiteren Ablauf. „Der Einstellungstest war schon vor der FOS. Wir haben diesen PC-Test gemacht, waren im Assessment Center und beim Polizeiarzt. Das ist fast das gleiche Verfahren wie für die Abiturienten“, ergänzt Adriana.

Schon bald steht die erste Klausur im Fach Recht an. „Hier geht es darum, was die Schülerinnen und Schüler schon an Grundlagen verstanden haben“, schildert Janssen. Zudem sollen sie Sachverhalte analysieren und den Rechtsgebieten zuordnen können. „Natürlich kann man vieles davon auch im Lehrplan der HSPV wiederfinden, aber in der FOS wird das auf das Niveau 15-jähriger Schüler ohne Fachhochschulreife heruntergebrochen“, führt Janssen weiter aus. „Die Schüler können reinschnuppern und Lust auf den Beruf als Polizistin oder Polizist bekommen. Die eigentliche Ausbildung folgt ja erst noch und soll bei uns ausdrücklich nicht vorweggenommen werden.“

Und was ist eigentlich aus Dieb Max geworden? Wurde er festgenommen oder doch nach der Personalienfeststellung entlassen? „Die Güterabwägung, das Ermessen und die Verhältnismäßigkeit werden in einer späteren Unterrichtsstunde fortgeführt“, kündigt Janssen augenzwinkernd an.

Und wie geht es mit Ramins Kindheitstraum weiter? „Im Sommer 2024 bin ich mit der FOS fertig, dann bin ich Polizeianwärter, habe die Fachhochschulreife und möchte an der Polizeihochschule studieren“, zählt Ramin auf, der einen Aufenthaltstitel bis 2024 hat. „Ich möchte unbedingt Polizist in NordrheinWestfalen werden. Auf eigenen Beinen stehen und für mich selbst sorgen. Dafür werde ich jeden Tag mein Bestes geben.“

In dringenden Fällen: Polizeinotruf 110